(Mitten) aus dem Leben und (mitten) unter uns

Ein Beitrag von Diana Pietschmann und Giuseppe Cristiano ifs Gewaltberatung zum Thema emotionale Gewalt

 

Der gestreckte Mittelfinger. Der böse Blick. Das Handy kontrollieren. Drängeln auf der Autobahn. Jemanden wie Luft behandeln. Ausschließen. Einem Kind immerzu sagen, dass aus ihm nichts wird. Beleidigen. Drohen. Heimlich oder öffentlich verleumden. Immer wieder über eine längere Zeit hinweg.

Emotionale Gewalt ist keine Seltenheit und es ist fast unmöglich, im Laufe eines Lebens von ihr verschont zu werden. Wir treffen sie innerhalb der Familie, wenn Kinder durch ihre Eltern mit Liebesentzug bestraft oder misshandelt werden, in der Schule zwischen Schülern bzw. Schülerinnen in Form von Bullying oder ausgehend von Pädagogen und Pädagoginnen, im Netz und in sozialen Medien, als Mobbing im Arbeitsalltag, unter „Freunden“, in Partnerschaften, von Tätern bzw. Täterinnen zu Opfern. Laut Nolting auffällig häufig zwischen Menschen, die sich mehr oder weniger gut kennen!1 Sie kann in jeder erdenklichen Beziehungskonstellation auftreten. Tag für Tag, bagatellisiert, nicht ernst genommen, klein geredet, schwer belegbar. Solange niemand richtig zuschlägt, lässt sich auch die Polizei nicht einschalten. 

Gewalt an sich ist, was ihre Ausdrucksart, ihren Wirkungsgrad, ihre Hintergründe und ihre Motive anbelangt, ein sehr vielschichtiges Phänomen. Unter dem Strich findet Gewalt, sofern wir uns nach der Definition des ifs richten, dann statt, wenn die seelische, körperliche oder sexuelle Integrität einer Person geschädigt wird. Körperliche Schäden bei Opfern durch körperlichen Ausdruck – also „heiße“ Gewalt – von Tätern, wie z.B. durch Schläge, sind sichtbar und damit „messbar“. Bei psychischen Folgen, welche durch Ausgrenzung oder Liebesentzug entstehen, tun wir uns schwer – zumindest so lange, bis sie den Grad einer Erkrankung erreichen und diagnostiziert werden können. Und selbst dann fällt es noch schwer. 


Schwerwiegende Folgen 

Die Folgen emotionaler Gewalt für die psychische und körperliche Gesundheit können mindestens genauso schwerwiegend sein wie aus körperlicher Gewalt entstandene Verletzungen. Denn diese Form von Gewalt greift uns Menschen in unseren existenziellen Grundbedürfnissen nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Resonanz massiv an. Am Ende ist auch psychische Gewalt körperlich, weil auch sie sich im Körper und unseren Zellen niederschlägt – zwar nicht direkt durch von außen verursachte Verletzungen, sondern indirekt über unser Nervensystem. 

In diesem Text werden die Begriffe psychische und emotionale Gewalt gleichbedeutend verwendet. Zudem richtet sich dieser Text an den Bedürfnissen unserer demokratischen, westlichen Welt aus. Menschen, die hingegen in Kriegsgebieten leben oder durch das sich verändernde Klima in existenzielle Krisen geraten, erfahren einerseits verstärkte emotionale Peinigungen und haben andererseits andere Herausforderungen zu bewältigen, als sich um Kränkungen in der Beziehung oder am Arbeitsplatz zu kümmern. Aber in unseren Breiten führt emotionale Gewalt zu einem subjektiv empfundenen Schmerz, der aus Mangel an objektivierbarer Messung in seinen Konsequenzen für die Opfer nicht ernst genommen wird. Gerade aufgrund der unterschiedlichen Lebensarten auf unserer Welt ist deshalb der kultur- und gesellschaftsbasierte Blick auf das Thema der psychischen Gewalt entscheidend. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass wir basierend auf unserer Rechtsordnung eher die „heißen“ Formen der Gewalt verfolgen und ächten. „Kalte“ Ausdrucksformen der Gewalt wie Ausgrenzung und Liebesentzug sind für uns nicht greifbar und damit bis heute schwer zu verurteilen. 


Psychische Gewalt macht psychisch UND körperlich krank! 

In der frühen Kindheit und während des Aufwachsens erlebte körperliche und psychische Verwahrlosung und/oder Gewalt durch nahe Bezugspersonen führt gemäß Aust zu permanentem Hochstress, Bindungsstörungen und eingeschränkten Bewältigungsstrategien.2 Bindungsstörungen können die Grundlage einer psychischen, affektiven oder Persönlichkeitsstörung bilden, welche wiederum emotionale und körperliche Gewalt als Problemlösestrategie mit sich bringen. 

Andauernd psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein bedeutet also, sich in einem stetigen Zustand von Hochstress zu befinden. Über den Regelkreis Hypothalamus und Hypophyse im Gehirn werden Botenstoffe auf den Weg gebracht, die wiederum die Nebenniere dazu anregen, vermehrt Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin auszuschütten. Dieses körpereigene Dauerfeuer macht laut Bartens anfällig für diverse Leiden.3 Dazu zählen beispielsweise die Verkalkung und Verhärtung von Arterien, eine niedrigere Schmerzschwelle, Beeinträchtigungen der Immunabwehr, des Stoffwechsels und des Hormonhaushalts sowie herabgesetzte Wundheilung. Hinzu kommen Magengeschwüre und Rückenschmerzen sowie orthopädische Beschwerden durch verhärtete und verkürzte Muskeln. Außerdem steigen die Krebsanfälligkeit und das Risiko für einen Herzinfarkt. Menschen, die emotionaler Gewalt ausgesetzt sind, leiden häufig unter chronischen Entzündungen. Dabei fährt der Körper die Konzentration proentzündlicher Botenstoffe hoch und ist damit in ständiger Abwehrbereitschaft. Problematisch daran ist die Überproduktion gemessen an den Gefahren tatsächlicher äußerer Erreger. Somit passiert es, dass die Abwehrstoffe sich gegen die eigenen Organe richten, was zu einer schnelleren Alterung dieser sowie chronischen Entzündungen führt. 


Gegen emotionale Gewalt 

Es ist keine allzu neue Erkenntnis, dass körperliche wie seelische Schmerzen in denselben Gehirnregionen verarbeitet werden, wie Eisenberger, Lieberman, Williams in ihrer Studie belegen konnten.4 Somit liegt es nahe, dass Selbstmedikation mit Schmerzmitteln eine gängige Methode darstellt, um die durch emotionale Gewalt entstandenen Schmerzen zu lindern. Symptomlinderung durch eine Kopfschmerztablette gelingt schneller und ist einfacher wie die Konfrontation in oder der Ausbruch aus kränkenden Beziehungen. 

Dabei wäre es so wichtig, sich klar gegen emotional verletzendes Verhalten zu positionieren und dem Gegenüber die eigenen Grenzen aufzuzeigen. Nicht umsonst sagen wir in der Gewaltberatung: Wir achten die Person und ächten die Tat. Werden Grenzen hingegen nicht respektiert, kommt die Überlegung hinzu, ob im Hinblick auf die eigene Unversehrtheit der Umgang mit der kränkenden Person gänzlich vermieden werden könnte oder sollte, was im Kontext von Familie oder Arbeit natürlich nicht einfach ist. Destruktive Lösungsstrategien im Sinne ausgetragener Aggression haben meist einen langen Weg und bedürfen enormer Achtsamkeit auf Täter- und Opferseite, um verändert zu werden. 


Am Ende wird alles … 

Die Übergänge innerhalb des Spektrums vom unabsichtlichen bis hin zum absichtlichen Schädigen, von einmaligen verbalen „Ausrutschern“ zu psychischer Gewalt sind laut Nolting fließend.5 Dies macht nicht nur emotionale Gewalt, sondern Gewalt an sich zu einem vielschichtigen und äußerst differenzierten Phänomen. Wenn man sich behelfen möchte, um eine Trivialisierung des Begriffs, ähnlich wie das im Falle des Phänomens Trauma geschehen ist, zu vermeiden – nicht jede Kritik, nicht jede Empörung, nicht jede aggressive Äußerung ist im engeren Sinne Gewalt – könnte man sich der Einordnung bedienen, die z. B. bei der Definition von Mobbing verwendet wird: Ausschlaggebend sind dabei der Grad der Gewalt und ihre Wiederholung über längere Zeit. 

Dass im Falle von häuslicher oder Intimpartnergewalt etwas getan werden müsse, um diese zu verhindern, wurde durch das Gewaltschutzpaket in Politik und Medien bereits deutlich diskutiert und – wenn auch unausgereift – am 25. September 2019 beschlossen. Dass Kinder häufig Opfer von Gewalt ihrer Väter bzw. Mütter, Frauen ihrer Partner und Männer ihrer Partnerinnen werden6, wurde durch die mediale Diskussion rund um das Gewaltschutzpaket aufgemacht. Dabei geht es jedoch rein um die Form der körperlichen Gewalt. So richtet sich ein Appell an jeden Einzelnen, aufmerksam zu beobachten und aufmerksam zu sein gegenüber den mehr oder weniger subtilen oder offen ausgetragenen Grenzverletzungen und -überschreitungen, gegenüber Ausgrenzungen und kalten Schultern, denen wir häufig durch unsere Mitmenschen ausgesetzt sind. „Insofern kann emotionale Gewalt nicht nur als individuell-psychologische Diagnose oder gar als banale Alltagserscheinung betrachtet werden, sondern spiegelt womöglich eine gefährliche gesellschaftliche Unfähigkeit wider, in Beziehung zu sich selbst und zu anderen zu treten.“

Diana Pietschmann und Giuseppe Cristiano ifs Gewaltberatung 

 

1 Nolting, H.-P. (2015). Psychologie der Aggression. Warum Ursachen und Auswege so vielfältig sind. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH, S. 13.
2 Aust, S. (2018). Frühe Stresserfahrungen und die Entwicklung emotionaler Fertigkeiten. In K. H. Brisch (Hrsg.), Bindung und emotionale Gewalt (S. 123-143). Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH.
3 Bartens, W. (2018). Emotionale Gewalt. Was uns wirklich weh tut: Kränkung, Demütigung, Liebesentzug und wie wir uns dagegen schützen. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag GmbH.
4 Eisenberger, N. I., Lieberman, M. D., & Williams, K. D. (2003). Does rejection hurt? An FMRI study of social exclusion. Sience, 302, 290-292.
5 Nolting, H.-P. (2015). Psychologie der Aggression. Warum Ursachen und Auswege so vielfältig sind. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH, S. 24.
6 Nolting, H.-P. (2015). Psychologie der Aggression. Warum Ursachen und Auswege so vielfältig sind. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH, S. 81.
7 Bartens, W. (2018). Emotionale Gewalt. Was uns wirklich weh tut: Kränkung, Demütigung, Liebesentzug und wie wir uns dagegen schützen. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag GmbH, S. 238. 

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